Der Grimes kommt

Als ich klein war konnte ich oft nächtelang nicht einschlafen. Weil ich Angst hatte nicht wieder aufzuwachen. Wenn ich bei Euch am Wiesengrund war und nicht schlafen konnte, weil es  fremde Schatten gab oder der Zug so schauerlich ratterte, hast Du mir Märchen vorgelesen. Aber lieber noch als vorgelesen, hast Du mir Geschichten erzählt. Vor dem Schlafengehen, beim Mensch ärger Dich nicht spielen, beim Unkraut zupfen im Garten, beim Stöbern auf dem Speicher und auf unseren Spaziergängen zum kleinen Tunnel und wieder zurück. Wir haben viel gesungen und viel gelacht. An einem sonnigen Nachmittag hast Du mir das erste Mal vom Grimes erzählt – vielleicht war ich fünf. Von diesem sonderbaren Fabelwesen, konnte ich danach nie genug hören. Obwohl ich Angst hatte vor ihm ... Der Grimes wohnte damals in der Hecke an Eurer Gartentür und wenn man nicht aufpasste, wenn man daran vorbeiging, dann schnappte er einen und entführte ihn für immer weit weg von dieser Welt und auch sonst trieb der Grimes allerlei Schabernack. Die Gefahr war gebannt, wenn man nicht allein an der gefürchteten Hecke vorbeischlich. Wenn wir beide Hand in Hand an der Hecke vorbeigingen und dabei vielleicht ein Liedchen sangen, war die Welt in Ordnung – denn der Grimes war zwar gefährlich, aber trotzdem feige. Die Hecke an Eurer Gartentür gibt es heute nicht mehr und inzwischen bin ich auch groß genug, um allein aus der Gartentür in die Welt zu spazieren. Den Grimes hab ich trotzdem nie vergessen und das Bild, dass Du mir mit auf meinen Lebensweg gegeben hast: Zu zweit geht alles leichter und wenn man gemeinsam durch die Tür geht, ist man auf der anderen Seite nicht allein. Der Grimes wohnt nicht mehr in der Hecke neben Eurer Gartentür, aber er ist der persönliche Begleiter meiner Ängste und Herausforderungen geworden. Er versteckt sich in meinem Alltag, in einer Prüfung die ich noch bestehen muss, in einer Auseinandersetzung, die ich führen und in einer Entscheidung, die ich treffen muss. Am Ende bleibt er das, was er schon immer war – die Angst eines Menschen vor der Endlichkeit des Seins, vor dem weg sein, wenn die anderen noch da sind und auf der anderen Seite die Angst, dass einer, den man liebt, plötzlich für immer weg sein könnte. Mit der Geschichte vom Grimes hast Du mich beschützt, als ich klein war, weil sie mich daran hinderte einfach gedankenlos alleine loszulaufen. Auf eine  ambivalente Art und Weise beschützt mich der Grimes heute noch. Der Grimes – das sind die Herausforderungen auf unserem Lebensweg welchen wir uns noch stellen müssen und es ist gut so, solange wir es mit Sinn und Verstand tun. Eines Tages musste ich lernen allein aus Eurer Gartentür zu gehen und doch gibt es heute noch Türen an denen jemand meine Hand nehmen muss, damit ich sie zum ersten Mal durchschreiten kann. Vielleicht hilft mir dieses Bild zu verstehen, dass es einen Tag im Leben jedes Menschen gibt, an dem wir selbst dem Grimes die Hand reichen müssen, um uns unserer letzten Herausforderung zu stellen. Dann entführt uns der Grimes für immer weit weg von dieser Welt. Der Grimes ist nicht böse, er ist nur fremd in unserer Welt und wir können ihm erst freiwillig die Hand geben, wenn uns der Grimes, mit all unseren Erfahrungen, weniger fremd ist, als die Welt in der wir so lange gelebt haben. Du hast lange gezögert dem Grimes die Hand zu reichen. Statt dessen haben wir uns oft an der Hand gehalten. Aber Stück für Stück ist mir Deine Hand entglitten, bis ich schließlich erkennen musste, dass man Dich diesmal auf dem Weg durch die Gartentür nicht begleiten konnte. Diesmal hat der Grimes Dich für immer mitgenommen in diese andere Welt, von der wir nichts genaues wissen, von der ich aber glaube, dass es dort einen großen Garten für Dich gibt. Wenn ich Dich eines Tages in diesem Garten besuchen komme, muss ich vielleicht nicht dem Grimes die Hand geben, weil Du schon auf mich wartest an der Hecke neben der Gartentür.

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