Abschied von der großen Bärin

Ich blicke aus Deinem Fenster. Es gehört eigentlich gar nicht Dir, aber weil Du gerade hier
bleiben musst, ist es Dein Fenster: draußen – goldene Kugeln auf kleinen roten Backsteinerkern. Ich denke Frosch, Prinzessin, Märchen – so wie in einem von Paulas bunten Büchern mit den großen Buchstaben. Aber nichts an der Situation in der wir uns gerade befinden, ist märchenhaft. Oder doch? In meinem Germanistik Studium haben sie behauptet: Märchen sind die grausamsten Geschichten überhaupt. Ich würde gern aufwachen aus dieser alptraumhaften Situation und Dich mit mir wecken, wachrütteln, wegzerren von hier – so wie früher manchmal… Du hast erzählt, dass ich, als ich noch sehr klein war, beim Spazierengehen immer Deine Hand halten wollte – auch nachdem Du mich schon ganz weit getragen hattest. Ich ließ mich partout nicht abwimmeln. Selbst als Du die Hände schütteltest und riefst: „Ich will einfach mal ein Stück lang frei sein", griff ich Deine Hand und sagte: „Ok, dann lass uns gemeinsam frei
sein." So war es dann eigentlich immer – gemeinsam frei – aber von beiden Seiten. Ein bisschen Fluch (in meiner wilden Teenager-Zeit) – ein bisschen Segen (wann immer ich Trost und Antworten suchte). Aber, wir sind ja schon wach. Das wird mir immer besonders schmerzlich klar, wenn Du Deine schönen Augen, deren Farben von Tag zu Tag ein wenig blasser werden, so weit und ungläubig aufreißt und mich durchdringend ansiehst. Wie ein Kind, dem man gesagt hat, dass Weihnachten ausfällt. Und ein wenig ist das doch auch so. Denn Du hattest noch so
viel vor: Erkämpft mit Mut, Neugier und Willenskraft. Und nun, das sagen die Ärzte, soll es
das gewesen sein. Und dann rufe ich: „Mamabär – es ist alles gut. Ich bin ja bei dir! Wir sind
gemeinsam … wenn auch nicht frei … aber das denke ich nur. Mamabär nicht nur, weil die ungewohnt kurzen Haaren, deine großen Kinderaugen und die tapsigen Bewegungen jetzt daran erinnern, sondern auch, weil Dein Name – Ursula – für die kleine Bärin steht. Einen kraftvollen und entschlossenen Namen haben Deine Eltern, haben Hans und Wally, Dir mit auf Deinen Weg gegeben. Du hast ihm alle Ehre gemacht. Manchmal vielleicht auch mit deinem bärentypischen Dickschädel, den auch ich von Dir habe. Also rufe ich die große Bärin an. Doch sie weiß schon, dass ich notlüge und ihr Blick entgleitet mir. Du bist mir nicht böse. Du kennst all das. Du hast es selber getan, wohl acht Jahre vor meiner Geburt – für deine Mutter. Wir haben oft darüber gesprochen, aber es nie so recht geglaubt, dass es so weit kommt… Dass ich vielleicht eines Tages ohne Dich – heiraten muss oder Kinder groß ziehen. Plötzlich ist dieses Ende so nah und das wirkt so unecht. Und wir können nichts tun, als uns an der Hand halten.
Das hat nichts mehr von dieser einmal gewesenen Freiheit. Wir sind gemeinsam gefangen und bleiben es. Und dieses Halten schmerzt in manchem stillen Moment so sehr. Wir sind gefangen - So lange bis wir es schaffen beide loszulassen. Und ich flüstere Dir zu: „Es ist gut, Du darfst loslassen. Wir werden trotzdem frei sein. Wir sind uns viel zu nah, als dass der Tod dies feste Band lösen könnte." Ich komme aus Dir und bleibe ein Teil von Dir und schenke Dir ein Stück von mir für Deine letzte große Reise. Das Reisen – gemeinsam und einsam – war immer eine unsere Leidenschaften und Stärken. Am liebsten reisten wir dahin, wo es auch mal weh tut. Wo man lernt, die Welt in ihrem Innersten zu verstehen. Wir wollten sehen. Dafür hast Du so ausdauernd studiert: Landkarten und Sprachen. Persien, Jemen, Usbekistan, Amerika, Türkei, Armenien, Marrakesch, Indien und auch Tschechien… Du bist viele letzte Wege gegangen, selbst dann noch als die Zeit und die Kraft knapp wurden: Du hast mit Zigeunern gesungen, mit Berbern die Wüste bereist, mit Indianern geschwitzt und mit Kalbelia getanzt. In jeder Fremde hast Du schnell Freunde gefunden. Für Dich gab es gar kein fremd – nur anders, neu, spannend, vielleicht selten und darum so kostbar. Ich werde nie vergessen wieviele Farbfacetten der Sand hat, wenn über der Wüste die Sonne aufgeht, wie es ist mit indischen Straßenkindern Holi zu feiern oder mit Dir Hand in Hand dem Regen zu trotzen an der rauhen Küste von Neu-England – auf der Suche nach dem Grab eines längst vergessenen Dichters. Ein großer Traum blieb Dir trotz aller Entschlossenheit verwehrt – das schöne traurige Land in der Wüste – Afghanistan. Vielleicht darf ich nun eines Tages für Dich dorthin reisen und diesen Teil von Dir, der immer bei mir ist und bleiben wird, dorthin mitnehmen.

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